Titelbild: Mietek Grochowski an der Trompete, sitzend v. lks Moderatorinnen Alicia Schneider + Naemi Kux
Die Grauen der NS-Zeit sind für uns unvorstellbar. Was für uns historisches Wissen ist, war für andere die Realität. Um diese Realität jungen Menschen näherzubringen, besuchte Mieczyław Grochowski am Freitag, den 27.01.2023 die Augustinerschule. In Anwesenheit des Bürgermeisters Dirk Antkowiak und Vertretern des Auschwitz-Komitees erzählte Grochowski der Schülerschaft von seinen Erlebnissen im Arbeitslager Lebrechtsdorf-Potulitz im ehemals von Deutschland besetzten Teil Polens.
Eingeleitet wurde die Veranstaltung durch eine Rede des Bürgermeisters. So seien Veranstaltungen wie Zeitzeugenberichte essentiell, um abstraktes Wissen über die NS-Zeit zu veranschaulichen. Wir müssten ein kritisches Bewusstsein entwickeln, um menschenfeindliche Tendenzen auch heutzutage früh zu erkennen.
Neidhardt Dahlen vom Auschwitz-Komitee sprach im Anschluss über die Bedeutung von Bildung und Engagement. Hass und Angst entstünden aus Unwissenheit, welcher durch Aufklärung entgegengewirkt werden könne. So müsse man sich nicht bloß an vergangenes Grauen erinnern, sondern versuchen das Leid nachzuvollziehen und sich davon berühren zu lassen.
Anschließend begann der Bericht von Mieczyław Grochowski, auch genannt Mietek. 1939 wurde er in Pommern als jüngstes von acht Kindern geboren. Da sein Großvater und Vater ablehnten, die Volksliste zu unterschreiben und sich somit der Germanisierung in Polen verweigerten, wurde die Familie im Frühling 1943 verhaftet. Ein Großteil der Familie wurde in Viehwaggons zu verschiedenen Konzentrations- und Arbeitslagern deportiert.
Während seine Geschwister und sein Vater arbeiten mussten, blieb er bei seiner Mutter, da er erst vier Jahre alt war. Gemeinsam mit drei Familien mussten sie eingeengt in einer Baracke leben und litten unter Kälte und Hunger. Außerdem wurden sie von Ungeziefer geplagt. Seine Arbeit als Kind war es, in der Baracke Ordnung zu halten und Blaubeeren und Pilze für die Besatzer zu sammeln. Kleinste Verstöße gegen Anweisungen führten zu Peitschenhieben. Einmal in der Woche mussten sich alle Insassen in einem großen Saal duschen. Dies sei vor allem für die Frauen beschämend gewesen.
Das Impfen mit dicken Nadeln alle drei Monate bereitete allen Kindern große Angst, doch viele hätten keine Kraft mehr zum Weinen gehabt. Da sie befürchtete, er würde nicht mehr aus der Krankenstube zurückkehren, versteckte ihn seine Mutter unter dem Bett, als er krank wurde. Einer der Wärter habe ihn gesehen und bewusst ignoriert und ihm somit das Leben gerettet.
Einmal in drei Monaten durfte sein Vater sie besuchen. An den letzten Besuch, bei dem seine Mutter ihre Hoffnung auf Befreiung durch die russische Armee äußerte, erinnert er sich besonders gut. „Was denkst du, die Russen wären besser?“, zitiert er die letzten Worte seines Vaters. Kurz darauf erhielt die Familie das Telegramm. Sein Vater sei tot, die genauen Umstände seien unbekannt. Daraufhin kam seine Mutter für drei Wochen in die Krankenstube. Die Kinder hätten sich in dieser Zeit gefühlt „wie obdachlose Hunde“.
Vor der Befreiung durch die russische Armee kam die Erlaubnis, dass Kinder von Angehörigen geholt werden durften. Auch Mietek und seine Geschwister wurden von ihrer Tante abgeholt. Jedoch beschreibt er den Aufenthalt bei seiner Tante als die schlimmste Erfahrung seines Lebens. Dies habe an seinen Cousinen gelegen, die sich vor ihm geekelt hätten und ihn einsperrten, wenn er ins Bett gemacht hatte. Im Arbeitslager sei dies allen Kindern passiert und er habe noch lange darunter gelitten.
Als seine Mutter aus dem Lager befreit wurde und über 200 Kilometer zu Fuß zu ihrer Familie zurückkehrte, zog diese in ein verlassenes Haus, das nur noch von Ratten bewohnt wurde. Dort hätten sie nichts zu essen gehabt und lebten in Armut, lernten jedoch eine deutsche Familie kennen, die ihr letztes Brot mit ihnen teilte. Die Kinder der deutschen Familie hätten Mietek außerdem das Angeln beigebracht und seien mit ihm in die Schule gegangen. Diese Nachbarn beschreibt er als seine zweite Familie und steht immer noch mit ihnen in Kontakt.
Nachdem sein arbeitender Bruder an einem Rattenbiss starb, zog Mietek mit nur 14 Jahren in die Stadt und machte dort eine Lehre.
Mit 18 Jahren trat er der Blaskapelle bei und lernte dort Trompete zu spielen. Daraufhin spielte er 30 Jahre lang im Marineorchester, danach 16 Jahre beim Zirkus. Mit verschiedenen Zirkusgruppen reiste er durch ganz Europa.
Mit 24 Jahren heiratete Mietek seine erste Frau und bekam eine Tochter. Seine jetzige Lebensgefährtin Heidi, eine Frau aus Berlin, lernte er durch den Zirkus kennen.
Auf die Frage der beiden Moderatorinnen Naemi Kux und Alicia Schneider aus der Q3, was ihm im Laufe seines Lebens Kraft gegeben habe, erklärte Mietek, er habe erst mit 60 Jahren angefangen, tatsächlich über seine Zeit im Arbeitslager nachzudenken. In seiner Jugend habe seine Mutter gewollt, dass ihre Kinder in die Zukunft blickten. Sie habe verboten, über die Erfahrungen im KZ zu sprechen, sodass Mietek es jahrzehntelang verdrängt habe. Erst durch das Treffen mit anderen Betroffenen habe er seine Erfahrungen aufgearbeitet.
„Nie wieder das erleben, was ich durchgemacht habe”, sagte er in Bezug auf den Krieg in der Ukraine. Keiner der Anwesenden könne einschätzen, wie gut es ihnen ginge, außer ihm, denn er habe es bereits anders erlebt.
Während der Veranstaltung spielte er mehrere Stücke auf seiner Trompete, unter anderem die Melodie „Tränen aus Potulitz”, die er für verstorbene Kinder aus der NS-Zeit komponiert hat, sowie die Hymne von Auschwitz. Außerdem wurden alte Briefe und Fotos aus seiner Kindheit zur Veranschaulichung durchgereicht.
Der Leitsatz seiner Berichte als Zeitzeuge, die er seit 2001 hält, ist: „Wir rufen nicht nach Rache, wir rufen nach Erinnerung.”
Emily Jette Strohm, Chiara Palmer, Jule Watjer